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Album der Woche mit Adrianne Lenker Als wäre man Zeuge einer Therapiesitzung

Die Selbsthilfe-Handwerkerin: Perfekter als Adrianne Lenker beherrscht gerade keine US-Songwriterin die Illusion von Folk-Authentizität: »Bright Future« ist unser Album der Woche. Und: Neues von Julia Holter und Jlin.
Musikerin Adrianne Lenker

Musikerin Adrianne Lenker

Foto:

Buck Meek

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Album der Woche:

Adrianne Lenker – »Bright Future«

Manche, sehr seltene Alben sind so dicht geschrieben und komponiert, dass man schon beim ersten Song andauernd auf die Pausentaste klickt, um dann zurückzuskippen und noch mal nachzuhören: Was hat sie da gerade gesungen? Oder einfach nur, um nachzusinnen, um noch einmal die Schönheit eines winzigen Songmoments zu erleben, der sonst allzu flüchtig vorbeigeweht wäre.

»Bright Future«, das fünfte und bisher beste Soloalbum der US-amerikanischen Songwriterin Adrianne Lenker ist so ein Wunderwerk. Dabei wirkt es zunächst gar nicht spektakulär: Auf den ersten Blick sind es nur ein paar hinreißend knarrende und klimpernde Folk-Songs mit intimen Texten, die Lenker zusammen mit ein paar engen Freunden irgendwo in den Wäldern von New England im Studio aufgenommen hat.

Es rauscht das Analog-Tape, man hört die Bewegung von Fingern auf Gitarrensaiten, Atmen und ungefiltertes Herumklappern, den einen oder anderen nicht perfekt getroffenen Ton – als wäre jedes Lied ein One-Take, ein unwiederbringlich kostbarer Live-Session-Moment, der zufällig aufgezeichnet wurde.

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Ganz so war es wahrscheinlich nicht, aber es gehört zur großen Kunst von Adrianne Lenker, wahrlich kein Art-Brut-Hillbilly, sondern Absolventin der Berklee School of Music, diese Art von gefühlter Authentizität in ihrer Musik zu erzeugen. Auch wenn es vielleicht nur eine Illusion ist. Es ist eine, die auch bei ihrer Avant-Folk-Band Big Thief immer wieder und immer besser funktioniert. Zuletzt auf dem wundersam improvisiert wirkenden, schrullig-virtuosen Doppelalbum »Dragon New Warm Mountain I Believe In You«.

Inzwischen gilt Lenker, 32, als Erbin von Joni Mitchell und Bob Dylan, obwohl sie sich bei Big Thief gar nicht als Frontfrau versteht, sondern als Teil eines gleichberechtigten Kollektivs. Sie kann Karate, sitzt (auf Fotos für die »New York Times«) gern als Tomboy im Unterhemd und mit Cowboy-Hut im New Yorker Diner herum und zeigt selbstbewusst ihre wuchernde Achselbehaarung.

Früher war die genderfluide Musikerin mit Big-Thief-Gitarrist Buck Meek verheiratet, dann mit der Sängerin Indigo Sparke liiert. Lenker ist ein Freigeist im Sinne eines modernen Späthippietums, also das perfekte Alternative-Postergirl zurzeit. Je berühmter sie wird, desto kauziger und introvertierter wird ihre Musik. Auch diese nonchalante Selbstmystifizierung, die man gemeinhin eher von Männern wie Bonnie Prince Billy, Bill Callahan oder eben Bob Dylan kennt, trägt zum Geniekult um Lenker und zur Faszination bei, mit der über sie berichtet wird.

Anlass zum Schwärmen bietet aber auch »Bright Future« genug. Gleich das erste Stück, »Real House«, ist ein autofiktionaler Stream of Consciousness, den so zurzeit nur Lenker beherrscht: Tastend, windschief rumpelt die Musik zu hingetupften Szenen, die sie aus ihrer Kindheit an die Oberfläche befördert, als wäre man Zeuge einer Therapiesitzung. Lenker verbrachte ihre Kindheit in einer christlichen Sekte, die Eltern reisten viel herum, bis sie irgendwann mal sesshaft wurden, ein »echtes Haus« bewohnten.

Lenker schildert die Konfrontation mit ihrem ersten »scary movie« mit sieben Jahren, einem Weltuntergangsszenario, das sie zu der Überzeugung brachte, nicht unvorbereitet sterben zu wollen. Sie entwickelte selbstermächtigende, künstlerisch beflügelnde Superheldinnen-Fantasien gegen die bedrückende Angst: »I wanted so much for magic to be real, / so many dreams of flying, / rising high over the crowd / and they’d go, ›Oh man, look at her go!‹ / and I’d go.« In Wahrheit aber dreht sich der Song um eine andere frühe Horrorerfahrung, die sie offenbar bis heute traumatisiert – die der fehlenden Liebe ihrer Mutter. »Now thirty-one and I don’t feel strong / and your love is all I want«, singt sie. Vielleicht ein Schlüssel, der das ganze Album in seiner demonstrativen Hinwendung zu analoger Wärme und musizierender Gemeinschaft öffnet. »Sadness as a Gift«, einer der schönsten Songs des Albums, weist ebenfalls in diese Richtung: Er handelt davon, Traurigkeit als eine Gabe zu betrachten.

Denn es geht auch um mehr in diesen elaboriert arrangierten Skizzen. Um raffinierte Wortspiele zum Beispiel, wie in der zarten Fiedel-Ballade »Evol«, die einen ganzen Text an Anagrammen entlangfädelt. Ähnlich ist es bei »Donut Seam«, das sich im Text als vernuschelte Form von »Don’t it seem« entpuppt und lakonische Mahnungen vor dem Klimawandel enthält: »Don’t it seem like a good time for swimming / before all the water disappears?«. Die Musik dazu klingt ein wenig wie »American Pie«, Don McLeans Abschied an den Amerikanischen (Musik-)Traum.

Improvisation, Interpretation, anarchischer Fun, das sind die Zutaten, aus denen Lenker zumindest eine Ahnung ihrer »strahlenden Zukunft« als Künstlerin formt. »Vampire Empire«, einen markigen, zum Live-Standard gewordenen Rocksong von Big Thief, verwandelt sie mit ihren Studio-MitstreiterInnen Nick Hakim, Mat Davidson und Josefin Runsteen in eine schrammelige Hühnerstall-Version, so ähnlich, wie sie der amerikanische Late-Night-Host Jimmy Fallon gern mit den Roots, Waschbrett, Partytröten und Stargästen veranstaltet.

Berührende Therapielyrik und tollkühne, trotzköpfige Spielfreude halten sich die Waage auf diesem Album, das man, kaum sind die letzten getragenen Piano-Klänge und flehentlich gesungenen Verse von »Ruined« vorbei, gleich wieder von vorn hören möchte. Weil man ahnt, dass man so unfassbar viele Details und Subtexte verpasst hat. (9.0/10)

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Kurz Abgehört:

Jlin – »Akoma«

Jerrilynn Patton alias Jlin bleibt auch auf ihrem vierten Album eine Grenzgängerin: Die 36-Jährige aus Indiana ist nicht nur eine der wichtigsten und innovativsten Vertreterinnen des elektronischen Footwork-Genres, einer komplexen, hektischen House-Variante aus Chicago, sie zwingt diese für Klubs gemachten Beats auch immer wieder in einen klassisch-künstlerischen Zusammenhang. Zuletzt vertonte sie die Tanzperformance »AutoBIOgraphy« des britischen Choreografen Wayne Gregory, davor brachte sie mit »Black Origami« ein vielschichtiges, afrofuturistisches Album heraus, das zu den besten Veröffentlichungen des Jahres 2017 gehörte.

Der Nachfolger »Akoma« ist weniger aufregend, allerdings sind die Gäste spektakulär: Avantgarde-Ikone Björk veredelt den Eröffnungstrack »Borealis« mit nordischer Naturmystik, das Kronos Quartett fiedelt harmonisierend in den verschachtelten Rhythmus von »Sodalite« hinein – und kein Geringerer als Altmeister Philip Glass leiht sein Pianospiel für »The Precision of Infinity«, zu dem man trotz seiner demonstrativen Kunstwilligkeit auch schweißtreibend tanzen kann. Spannend! Wohin die Reise für Jlin weitergeht? Vielleicht in Richtung von Slasherfilm-Soundtracks wie »Summon«. (8.0/10)

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Julia Holter – »Something In The Room She Moves«

Die Pandemie hat ihre Spuren auf seltsamste Weise hinterlassen. Bei der US-Musikerin Julia Holter, in den Zehnerjahren intellektuelles Vorbild für junge Songwriterinnen wie Weyes Blood, führte das viele Stubenhocken, bei dem sie auch noch schwanger war, offenbar dazu, dass sie sich in Stuck und Mobiliar ihres Altbau-Zuhauses buchstäblich hineinträumte: »When I’m in the furniture«, flötet sie im Titelstück ihres neuen Albums, »I can intuit stucco«.

Elegant, hell und sonnendurchflutet wie Visionen einer Innenarchitektin beim Wegdösen ins Nachmittagsnickerchen klingt auch die Musik auf »Something In The Room She Moves«, im Titel eine Abwandlung einer Zeile aus dem Beatles-Song »Something«. Flirrender, flüchtig hingetupfter Jazz, esoterische Chants wie »Meyou« und ozeanische Walgesang-Mediationen über die emotionale Verschränkung von Trauer (der Tod ihres Neffen) und Mutterglück (die Geburt ihrer Tochter) münden in ein überraschend warmes und tatsächlich intuitiv wirkendes Klangambiente. Das wurde nicht, wie auf früheren Alben, von griechischen Tragödien oder Kunst inspiriert, sondern vom Bauchgefühl. Leider, so scheint es, hat die ansonsten unpolitische Holter aber auch bei ihrer Unterstützung des Boykottaufrufs »Strike Germany«  den Kopf ausgeschaltet. Zum Glück bleibt ihre spirituelle Marie-Kondo-Musik darüber erhaben. (7.5/10)

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Chastity Belt – »Live Laugh Love«

Immer toll, wenn eine Band auch bei eher so mittlerem Erfolg beieinanderbleibt und sich sogar immer enger zusammenschnallt. So wie Chastity Belt (Keuschheitsgürtel), 2010 in dem Ort mit dem schönen Namen Walla Walla im US-Bundesstaat Washington gegründet. Vom ironisch-feministischen Geschrammel, bei dem es über vier Alben oft um Bier, »giant vagina« und Nip-Slips ging, ist die All-female-Gruppe jetzt bei größerer Ernsthaftigkeit angekommen. Was dem Charakter ihrer an Dream-Pop und Shoegaze geschulten Musik keinen Abbruch tut.

Erstmals singen alle vier Mitglieder abwechselnd, Instrumente wurden getauscht. Entsprechend diversifiziert sind auch die Tonalitäten: »Clumsy« ist so zerknautscht introvertiert wie einst Elliott Smith, »Chemtrails« pumpt mit dem ätzenden Nihilismus von Arab Strap, »I-90 Bridge« perlt wie ein alter Cure-Song am Ennui des Lebens hinab. Vom zwangsfröhlichen Skydancer auf dem Cover sollte man sich ebenso wenig über die Grimmigkeit des Albums hinwegtäuschen lassen wie vom jovialen Titelwortspiel oder den plötzlich entfesselten Popmelodien. (7.7/10)

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Wertung: Von »0« (absolutes Desaster) bis »10« (absoluter Klassiker)