"Die Schifffahrtsbranche hat sich während der Coronavirus-Pandemie als sehr widerstandsfähig
erwiesen, wie das starke Handelsvolumen und die Erholung, die wir heute in mehreren Bereichen der
Branche sehen, beweisen", sagt Justus Heinrich, Leiter der Schifffahrtsversicherung der AGCS in Zentral-
und Osteuropa und Globaler Produktmanager für Schiffskasko der AGCS: "Die Totalschäden sind das
dritte Jahr in Folge auf einem historischen Tiefstand. Dennoch gab und gibt es Herausforderungen: Die
anhaltende Belastung der Crews durch lange Zeiten an Bord, die Zunahme von teuren und komplexen
Schäden gerade in Zusammenhang mit grösseren Schiffen, die wachsende Besorgnis über
Verzögerungen und Unterbrechungen in der Lieferkette sowie die Einhaltung von Umweltauflagen stellen
die Reeder und ihre Besatzungen vor grosse Herausforderungen im Risikomanagement."
Die
jährliche AGCS-Studie analysiert die gemeldeten Schiffsverluste und -unfälle (Zwischenfälle) über 100
Bruttoregistertonnen. Im Jahr 2020 wurden weltweit 49 Totalverluste von Schiffen gemeldet, ähnlich wie im
Jahr zuvor (48) und die zweitniedrigste Gesamtzahl in diesem Jahrhundert. Dies entspricht einem
Rückgang um 50 % innerhalb der zurückliegenden zehn Jahre (98 im Jahr 2011). Die Zahl der
Schiffsunfälle sank von 2.818 auf 2.703 im Jahr 2020 (um 4 %). In den vergangenen zehn Jahren gab es
insgesamt mehr als 870 Schiffsverluste.
Die Seeregion Südchina, Indochina, Indonesien und
Philippinen bleibt der globale Unglücks-Hotspot und ist für jeden dritten Verlust im Jahr 2020 verantwortlich
(16), wobei die Zahl der Vorfälle im Vergleich zum Vorjahr gestiegen sind. Frachtschiffe (18) machen mehr
als ein Drittel der im letzten Jahr verlorenen Schiffe und 40 % der Gesamtverluste in den letzten zehn
Jahren aus. Untergegangene (gesunkene/untergetauchte) Schiffe waren die Hauptursache für die
Totalverluste im vergangenen Jahr und machten jedes zweite Schiff aus. Maschinenschäden/-ausfälle
waren mit 40 % die Hauptursache für Schiffsunfälle weltweit.
COVID-19-Auswirkungen: Längere
Wartezeiten, Mangel an Container
Trotz der verheerenden wirtschaftlichen Auswirkungen von
COVID-19 waren die Auswirkungen auf den Seehandel geringer als zunächst befürchtet. Das globale
Seehandelsvolumen ist auf dem besten Weg, das Niveau von 2019 in diesem Jahr zu übertreffen.
Allerdings bleibt die Erholung volatil. COVID-19-bedingte Verzögerungen in den Häfen und Probleme beim
Management der Schiffskapazitäten haben zu Staus zu Spitzenzeiten und einem Mangel an leeren
Containern geführt. Im Juni 2021 gab es schätzungsweise eine Rekordzahl von 300 Frachtschiffen, die auf
die Einfahrt in überfüllte Häfen warteten. Die Zeit, die Containerschiffe beim Warten auf Hafenliegeplätze
verbringen, hat sich seit 2019 mehr als verdoppelt.
Die Situation des Besatzungswechsels auf
Schiffen ist eine humanitäre Krise, die sich weiterhin auf die Gesundheit und das Wohlergehen von
Seeleuten auswirkt. Im März 2021 befanden sich schätzungsweise 200.000 Seeleute an Bord von
Schiffen, die aufgrund von COVID-19-Beschränkungen nicht in die Heimat zurückkehren konnten. Längere
Zeit auf See kann zu mentaler Ermüdung führen und die Entscheidungsfähigkeiten beeinträchtigen, was
sich letztlich auf die Sicherheit auswirken kann. Es gab bereits Zwischenfälle auf Schiffen, bei denen
Besatzungen länger an Bord waren, als sie hätten sein sollen. Die Ausbildung von Seeleuten leidet
ebenfalls, und die Gewinnung neuer Crew-Mitglieder ist angesichts der Arbeitsbedingungen problematisch.
Künftige Engpässe bei der Besatzung könnten sich auf den Nachfrageschub in der Schifffahrt auswirken,
wenn der internationale Handel wieder anzieht.
Obwohl COVID-19 bisher nur zu begrenzten
direkten Schäden in der Schifffahrt geführt hat, ist der Sektor nicht von bedeutenden Schadensaktivitäten
verschont geblieben. "Insgesamt hat sich die Häufigkeit von Schiffsschäden nicht verringert. Wir sehen
auch einen Anstieg der Kosten für Kasko- und Maschinenschäden aufgrund von Verzögerungen bei der
Herstellung und Lieferung von Ersatzteilen sowie einer Verknappung der verfügbaren Werftflächen", sagt
Justus Heinrich. Auch die Kosten für Bergung und Reparaturen sind gestiegen. "In Zukunft könnten die
Versicherer möglicherweise einen Anstieg der Schadenersatzansprüche bei Maschinenausfällen
feststellen, wenn die Besatzung im Rahmen der COVID-19-Einschränkungen nicht in der Lage war,
Wartungsarbeiten durchzuführen oder die Herstelleranweisungen zu befolgen.
Grössere Schiffe,
grössere Risiken
Die Blockierung des Suezkanals durch das Containerschiff Ever Given im März
2021 ist der jüngste in einer wachsenden Liste von Zwischenfällen mit grossen Schiffen oder
Megaschiffen. Schiffe wurden immer grösser, da Reedereien nach Grössenvorteilen und Treibstoffeffizienz
streben. Die grössten Containerschiffe überschreiten mittlerweile die 20.000-TEU-Marke und noch
grössere Schiffe sind in Auftrag gegeben (24.000 TEU) - allein die Kapazität von Containerschiffen ist in
den letzten 50 Jahren um 1.500 % gestiegen und hat sich in den letzten 15 Jahren mehr als verdoppelt.
"Grössere Schiffe bedeuten besondere Risiken. Die Reaktion auf Zwischenfälle ist komplexer und
teurer. Die Zufahrtskanäle zu bestehenden Häfen wurden zwar tiefer ausgebaggert und die Liegeplätze
und Kaianlagen erweitert, um grosse Schiffe aufzunehmen, aber die Gesamtgrösse der Häfen ist
gleichgeblieben. Infolgedessen kann ein "Versehen" häufiger zu einem "Unfall" für die sehr grosse
Containerschiffe werden", sagt Anastasios Leonburg, Senior Marine Risk Consultant bei AGCS. Wäre die
Ever Given nicht wieder flott gemacht worden, hätte die Bergung den langwierigen Prozess des Entladens
von rund 18.000 Containern erfordert, wofür Spezialkräne nötig gewesen wären. Die Wrackbeseitigung
des grossen Autotransporters Golden Ray, der 2019 mit mehr als 4.000 Fahrzeugen an Bord in US-
Gewässern kenterte, hat über anderthalb Jahre gedauert und mehrere hundert Millionen Dollar gekostet.
Verzögerungen und Lieferkettenprobleme
Die Widerstandsfähigkeit der maritimen
Lieferketten steht nach den jüngsten Ereignissen im Fokus: Der "Ever Given"-Vorfall schickte
Schockwellen durch diejenigen globalen Lieferketten, die vom Seetransport abhängig sind. Er verstärkte
die Verzögerungen und Störungen, die bereits durch Handelsstreitigkeiten, extreme Wetterbedingungen,
die Pandemie und die steigende Nachfrage nach Containergütern und Rohstoffen verursacht wurden.
"Transparenz in der Lieferkette vom Rohstoff bis zum Endkunden ist wichtig, um das gesamte
Lieferkettensystem in dem sich ein Unternehmen bewegt wirklich zu verstehen und dadurch Risiken
erkennbar, kontrollierbar, quantifizierbar zu machen", sagt Anastasios Leonburg. "Genauere
Wettervorhersagen und Technologien werden den Schifffahrtsunternehmen ausserdem dabei helfen,
vorauszuplanen und Massnahmen zu ergreifen, um Verluste zu vermeiden, beispielsweise die Abfahrt zu
verzögern, Schutz zu suchen oder in einen alternativen Hafen umzusteuern."
Piraterie und
Cyberprobleme
Der weltweite Hotspot der Piraterie, der Golf von Guinea, ist im Jahr 2020 für über
95 % der weltweit entführten Besatzungen verantwortlich. Letztes Jahr wurden 130 Besatzungsmitglieder
bei 22 Vorfällen in der Region entführt - die höchste Zahl aller Zeiten - und das Problem hat sich
fortgesetzt. Schiffe werden immer weiter von der Küste entfernt ins Visier genommen - in einigen Fällen
über 200 nautische Meilen. Die COVID-19-Pandemie könnte die Piraterie verschlimmern, da sie zugrunde
liegende soziale, politische und wirtschaftliche Probleme verschärfen könnte. Ehemalige Hotspots wie
Somalia könnten wieder aufflammen.
Der Bericht stellt ausserdem fest, dass die vier grössten
Schifffahrtsunternehmen der Welt alle bereits von einem Cyberangriff betroffen waren. Da sich
geopolitische Konflikte zunehmend im Cyberspace abspielen, wächst die Sorge vor einem möglichen
Angriff auf kritische maritime Infrastruktur, wie z. B. einen wichtigen Hafen oder eine Schifffahrtsroute. Die
zunehmende Sensibilisierung für Cyberrisiken und die entsprechende Regulierung führen dazu, dass
Schifffahrtsunternehmen zunehmend Cyberversicherungen abschliessen, wenn auch bisher hauptsächlich
für landgestützte Aktivitäten.
Die komplette Studie finden Sie unter https://www.agcs.allianz.com/news-and-insights/reports/shipping-safety.html
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