Für Betroffene ist Invalidität eine schwere Belastung - in erster Linie durch die eigene
Beeinträchtigung. Hinzu kommen finanzielle Fragen und der Wunsch nach (Wieder-) Eingliederung in den
Arbeitsmarkt. Damit beginnt ein Marathon durch die Institutionen, der ohne Unterstützung kaum zu
bewältigen ist: Neben der Invalidenversicherung (IV) sind private Akteure (Arbeitnehmer, Arbeitgeber und
Ärzte), private Institutionen (Krankentaggeldversicherer, Pensionskasse) und oft weitere staatliche
Einrichtungen wie die Arbeitslosenversicherung oder die Sozialhilfe involviert.
Eine Rente wird erst zugesprochen, wenn der Betroffene nicht in den primären Arbeitsmarkt integriert
werden kann. Die ohnehin anspruchsvolle Wiedereingliederung wird gegenwärtig durch die Pandemie
erschwert: Einerseits stehen weniger geeignete Stellen offen, anderseits dürfte sich die
Zahl der IV-Anmeldungen erhöhen, weil seit Ausbruch der Coronakrise rund sechsmal mehr Personen
unter Symptomen einer schweren Depression leiden.
Signifikante Unterschiede
zwischen den Kantonen
Die neue Studie von Avenir Suisse unter der
Leitung von Jérôme Cosandey, Directeur romand und Forschungsleiter Sozialpolitik, wertet erstmals Daten
des Bundesamtes für Sozialversicherungen (BSV) aus und untersucht die Eingliederungsbemühungen
nach Kantonen. Dafür wurden Personen von sechs Kohorten (2010-15) vier Jahre
nach ihrer Anmeldung bei der IV analysiert. Die Betrachtung pro Anmeldung statt pro Einwohner klammert
soziodemografische Unterschiede zwischen den Kantonen aus und fokussiert auf die steuerbaren
Aktivitäten der IV-Stellen.
Im kantonalen Vergleich zeigen sich beträchtliche
Unterschiede. Die Rentenquoten - also das Verhältnis der zugesprochenen Renten pro Anmeldung - sind
in der Romandie und im Tessin mindestens 27% höher als in der übrigen Schweiz, im Kanton Genf sogar
um 41%. Die Differenzen spiegeln die Auslegungen des Bundesrechtes durch die
kantonalen IV-Stellen und zum Teil durch die Kantonsgerichte. Sie sind aber auch das Resultat
unterschiedlicher Eingliederungsstrategien.
Die Kantone Appenzell-Ausserrhoden, Jura und Zug
geben mehr als dreimal so viel aus pro Massnahmenbezüger wie das Tessin. Doch nicht nur
die Beträge pro Fall variieren stark, sondern auch die Zahl der Bezüger und der Integrationserfolg. So ist
die Erfolgsquote in den Kantonen Solothurn und Wallis deutlich tiefer als im Kanton St. Gallen. Das BSV
als Aufsichtsorgan ist gefordert, die Gründe für diese Unterschiede zu untersuchen
und die Basis für Vergleiche bei psychischen Krankheiten mit einer einheitlichen Nomenklatur (ICD-10) zu
legen. Um die Mittel effizienter einzusetzen, sollte ein Kostendach für alle beruflichen Massnahmen pro IV-
Stelle, gestützt auf die Anzahl Anmeldungen pro Jahr, festgelegt werden - analog
zur Regelung in der Arbeitslosenversicherung.
Optimierungsmassnahmen für
private und staatliche Akteure
Die Gesamtkosten für die Heilung, die Eingliederung und
die Berentung von Menschen mit Behinderung schätzt Avenir Suisse auf 24 Mrd. Fr.
pro Jahr. Bei so vielen Akteuren und derart hohen Kosten gilt es, Kommunikationsdefizite, Fehlanreize und
Doppelspurigkeiten zu vermeiden.
So könnte das Ressourcenorientierte Eingliederungsprofil
(REP), wie es der Verein Compasso vertritt, vermehrt dazu beitragen, die
Kommunikation zwischen Arzt und Arbeitgeber zu verbessern. Ein solches Instrument dokumentiert die
Arbeitsfähigkeit statt -unfähigkeit der Erkrankten und
erleichtert somit die Planung ihrer Rückkehr an den Arbeitsplatz. Arbeitgeber sollten das
REP-Zeugnis ab 30 Tagen Abwesenheit vom behandelnden Arzt einfordern.
Auch erfährt der
Krankentaggeldversicherer meist lange vor der IV von einer Arbeitsunfähigkeit und setzt regelmässig einen
Case-Manager ein. Davon profitieren die IV und die Pensionskassen, die sich an
diesen Kosten nicht beteiligen müssen. Diese Verzerrung führt zu suboptimalen Ergebnissen, weil dadurch
zu wenige Case-Manager eingesetzt werden. Die IV und die Versicherungsbranche müssen Mechanismen
definieren, die alle profitierenden Leistungsträger an den Kosten beteiligen.
Schliesslich sollten Doppelspurigkeiten zwischen der IV, der Arbeitslosenversicherung und der
Sozialhilfe zugunsten der Patienten überwunden werden, wie es der Kanton Aargau modellhaft vorführt:
Unter den Namen "Kooperation Arbeitsmarkt" bündeln die Ämter ihre Dienste unter einem
Dach und vereinfachen so die Schnittstellen mit den Erkrankten und den Arbeitgebern. Die kantonalen
Parlamente und Regierungen sind gefordert, die Ziele und die Form der inter-institutionellen
Zusammenarbeit zu überprüfen und an die lokalen Gegebenheiten anzupassen. Letztlich gilt es, von
föderalen Erfolgsmodellen zu lernen.
Link zur Website von Avenir Suisse: https://www.avenir-suisse.ch/publication/invaliditaet-eingliedern-statt-ausschliessen/
Link zum PDF der Studie: https://cdn.avenir-suisse.ch/production/uploads/2021/04/eingliedern-statt-ausschliessen_avenir-debatte.pdf
Pressekontakt:
Jérôme Cosandey (jerome.cosandey@avenir-
suisse.ch, +41 79 828 27 87)